Ein wesentlicher Aspekt, der die Prinzipien > Einkörperung< und >Entkörperung< wissenschaftlich manifestieren soll, bezieht sich auf die Erkenntnistheorie des Schweizer Epistemologen Jean Piaget. Seine Begriffe der "Assimilation" und "Akkomodation" wirken in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt in zwei einander entgegengesetzten Richtungen. "Die Assimilation ist konservativ und möchte die Umwelt dem Organismus [...] unterordnen [...] während die Akkomodation Quelle von Veränderungen ist und den Organismus den sukzessiven Zwängen der Umwelt beugt." Gerade im Bezug auf die Ästhetik der zeitgenössischen Kunst ein geeigneter wissenschaftlicher Ansatz, um die Paradoxien des aktuellen Körperverständnisses zu diskutieren. Ein wissenschaftlicher Grundgedanke, der in die Betrachtung von nachmoderner Körperkunst einfließen soll ist die Äquilibrationstheorie. Sie beschreibt wie sich durch Konfrontation mit strukturellen Veränderungen neue, unvorhersehbare Ungleichgewichte ergeben und dadurch die Erfahrungen relativer Irrationalität.

Diese neuartigen Strukturen und Vorstöße wirken sich auf die Gegenwartskunst aus und müssen bei der wissenschaftlichen Analyse der Werke berücksichtigt werden. Im Hinblick auf die "körperlose Welt der Telekommunikation" kommt es verstärkt zu anderen Erkenntnis- und Erlebnisformen. So fordert die post-avantgardistische Körperkunst zu neuem Sehen auf; zu einem neuen Rezeptionsverhalten und veränderter Wahrnehmung. Die kunstwissenschaftliche Grundlage und den Ausgangspunkt bilden die Negation und beginnende Entmaterialisierung innerhalb der Moderne und Postmoderne. Der Kernpunkt behandelt jedoch die aktuelle Vernachlässigung des Körpers bedingt durch den Einfluss neuer Medien und dem stetigen Konflikt des Künstlers zwischen dem traditionellen Körpermotiv in der Kunst und den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten in Wissenschaft und Technik.

Im Hinblick auf Virilios "Ästhetik des Verschwindens" soll der Körper in der Kunst der Generation -X- als "Grenzwesen" verstanden werden. In wissenschaftlichen Exkursen werden künstlerische Konzepte internationaler KünstlerInnen betrachtet, die sich mit den stetigen Wandlungen und Abhängigkeiten der gesellschaftlich geprägten "Selbsterfindungsstrategien" auseinandersetzen. Auf diese Weise entsteht eine Form der "Grenzästhetik", die ich als Ästhetik der An- bzw. Abwesenheit verstehe. Die ästhetischen Prinzipien der körperlichen Darstellung sollen als wahrnehmbarer Schwebezustand zwischen "Entkörperung" und "Einkörperung" betrachtet werden.

Im Blickpunkt steht, was "in between" ist: die Zwischenräume bzw. "Schnittstellen", die Markierungen und die Wegkreuzungen (X), an denen sich etwas ereignet und Verzweigungen (Crossovers) passieren. Nicht die Frage nach stetiger Anwesenheit bzw. Verfügbarkeit und Sichtbarkeit soll mit dieser wissenschaftlichen Arbeit thematisiert werden, vielmehr stehen die künstlerischen Inszenierungsstrategien im Vordergrund, die als lebensecht bzw. authentisch in bezug auf die Gegenwartskultur bezeichnet werden können.

wissenschaftlicher crossover

Ein umfangreicher Teil der Forschungsarbeit konzentriert sich auf die Betrachtung von Kunstwerken, die sich thematisch mit dem Körper als Fragment, Behausung, Objekt oder Mischwesen auseinandersetzen. Dieser Teil der künstlerischen Fokussierungen fragt nach den spezifischen Erscheinungsformen des Körpers in den zeitgenössischen Kunstströmungen. Im Vordergrund steht dabei die genaue Analyse des angewendeten Prinzips und deren Relevanz für den Rezipient.

Als Ergebnis dieser anschaulichen Analyse post-postmoderner Kunstprojekte möchte ich die wahrnehmbare Veränderung des >Körperbildes< hervorheben. Die Wandlungsprozesse, die eine Eigendynamik entwickeln und die Anpassung des Körpers und seiner Lebensenergie explizit verdeutlichen, müssen auch unter dem Aspekt der "Teletechnologie" betrachtet werden. Zugleich soll ebenfalls die klassische Unterscheidung zwischen >intern< und >extern< besprochen werden.

Ein Anknüpfungspunkt ist das Zitat von Karlheinz Lüdeking welches indirekt auf die ästhetischen Prinzipien der Grenzästhetik verweist: "Offenbar muss auch der Körper, wenn er nicht wertlos werden will, sich heute ebenso schnell von einer in die andere verwandeln." Damit verbunden ist die gesellschaftliche Vision, die sich deutlich im künstlerischen Schaffen widerspiegelt und eine Künstlergeneration charakterisiert, die post-avantgardistische Wege in der Körper-Kunst beschreitet. Abschließend wird eine Reflexion über die Konsequenzen der paradoxen Simultanpräsenz von Körperdistanzierung und -aufwertung angestrebt. Der Künstler selbst sollte immer als Mitglied der Gesellschaft angesehen werden und deshalb verfolgt das Promotionsprojekt die Verbindung der unterschiedlichen Einflüsse auf die sogenannte BodyArt in einem begrenzten Zeitraum. Dabei gilt es die Selbstwahrnehmung des Künstlers direkt mit seinem Werk zu verbinden. Die bewusste Auswahl der Körperbehandlung im Werk kann somit als Erkennungsmerkmal einer spezifischen Künstlerbewegung gewertet werden. Die daraus resultierende Formulierung post-postmoderner ästhetischer Prinzipien sind als veränderte Zeichenprozesse innerhalb der Kultur und Kommunikation zu verstehen. Diese verweisen auch auf einen wahrnehmbaren Generationswechsel in der internationalen Millenniums-Art.

Die angesprochene Forschungsarbeit beleuchtet jeweils verschiedene Aspekte der Körperwahrnehmung, sowohl aus der Sicht der Kunstwissenschaft, Soziologie, Philosophie, Geschichte und der Psychologie.

Die Dissertation wurde im Sommer 2009 abgeschlossen. Veröffentlichung folgt!

Quellennachweis: vgl. Virilio, Paul: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. Hanser Verlag, München, Wien, 1994, S.11 Scharlau, Ingrid: Jean Piaget. Zur Einführung. Hamburg 1996, S.91 Lehmann, Ulrike/Weibel, Peter: Ästhetik der Absenz. Bilder zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, München1994,S.8 Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens. Merve Verlag. Berlin 1986. Huber, Eva (Hrsg.): Technologien des Selbst. Zur Konstruktion des Subjekts. Stroemfeld Verl. Frankfurt/M, Basel 2000, S.11 s. Bianchi, Paolo: Real life. In: Kunstforum; Lebenskunst als Real life. Bd.143, Jan.-Feb.1999, S.43 s. Virlio, 1994, S.116 Lüdeking, Karlheinz: Vom konstruierten zum liquiden Körper. In: Phantasmen der Moderne. Puppen-Körper-Automaten.Hrsg.v. Müller-Tamm, Pia/ Sykora, Katharina. Köln 1999, S.226

 

 

 

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